Vielleicht ist der Gāyatrī Mantra der schönste und erhebendste Mantra überhaupt, auf jeden Fall aber einer der bekanntesten. Der Tradition entsprechend werden junge, männliche Brahmanen ab dem sechsten Lebensjahr und damit noch vor Beginn ihres eigentlichen Veda-Studiums durch das sogenannte „Upanayana“, das wichtigeste religiöse Ritual in der Kindheit und zugleich das Übergaberitual der „heiligen Schnur“, in den Gāyatrī Mantra eingeweiht.
Von da an haben sie den Gayatri Mantra täglich besonders früh morgens, aber auch mittags und abends zu rezitieren. Gehört der Gāyatrī Mantra schon seit dem Altertum zum allmorgentlichen Ritual der Brahmanen, so wird er heutzutage von Angehörigen aller Kasten und beider Geschlechter rezitiert. Die herausragende Bedeutung des Gāyatrī Mantra wird in verschiedenen klassischen Schriften gewürdigt, so z.B. im Manusmṛti, im Harivaṃśa und in der Bhagavadgītā. Hier findest Du den Gāyatrī Mantra, dargestellt in Devanāgarī und IAST.
Der Gāyatrī Mantra stammt aus dem Ṛgveda (3.62.10). Er besteht aus drei Versfüßen bzw. Zeilen (sogenanten „Pādas“). Dem Gāyatrī Mantra wird jedoch gemäß einer Anweisung der Mahānārāyaṇopaniṣad des Kṛṣṇa Yajurveda, auch bekannt als Taittirīya Āraṇyaka (2.11.1–8), bei der Rezitation stets noch der Praṇava (die heilige Silbe „oṃ“) und die sogenannte „Mahāvyāhṛti“ (zu Deutsch „großer Spruch“) vorangestellt. Die Mahāvyāhṛti ist die Aufzählung der drei ersten Lokas (d.s. Sphären oder kosmische Ebenen). Heutzutage werden diese drei Lokas meist als Repräsentationen der drei grundlegenden Ebenen unseres Daseins angesehen, nämlich der physischen Ebene, der feinstofflichen Ebene und der kausalen Ebene. Nach der altertümlichen, indischen Kosmologie existieren allerdings insgesamt sieben Lokas. Diese sind Bhūloka, Bhuvarloka, Svarloka, Maharloka, Janaloka oder Janarloka, Tapoloka oder Taparloka und Satyaloka oder Brahmaloka.
Der Name des Gāyatrī Mantra verweist zunächst lediglich auf das Versmaß, welches sich ebenfalls „Gāyatrī“ nennt, abgeleitet von „Gāyatra“, zu Deutsch „Hymnus“. Die Gāyatrī ist eines der fünf vedischen Versmaße. Sie besteht aus drei Pādas, zu je acht Silben. Im Falle des hier beschriebenen Gāyatrī Mantra hat sich mit der Zeit allerdings eine Schreibweise durchgesetzt, bei der das letzte Wort des ersten Pāda (vareṇiyaṃ), das eigentlich viersilbig ist, nur dreisilbig geschrieben wird (vareṇyaṃ), wobei ein kurzes „i“ unterschlagen wird, so dass der erste Pāda nur noch aus sieben Silben besteht.
Der Gāyatrī Mantra gilt als derart universell, dass er zu den sogenannten „Nirguṇa Mantras“, zu den „Mantras ohne Eigenschaft“, gezählt wird, und das, obwohl er ursprünglich die Anrufung einer bestimmten Gottheit darstellt. Mantras sind jedoch mehr als nur Anrufungen. Für die Gläubigen stellen sie nicht weniger als die Klang gewordene Manifestation der Gottheit dar. Gott ist selbst Klang geworden, ist im Klang präsent. Das bedeutet, dass, wer immer den Mantra rezitiert oder andächtig hört, der lebendigen Gegenwart Gottes teilhaftig wird. Der Gāyatrī Mantra stellte zunächst eine Anrufung der männlichen, vedischen Sonnengottheit Savitṛ dar. Daher wird der Gāyatrī Mantra auch „Sāvitrī Mantra“ genannt, zu Deutsch in etwa „die von Savitṛ abstammt“. Savitṛ, wörtlich „der Erweckende“, ist wie Viṣṇu und Surya, der oft mit Savitṛ gleichgesetzt wird, ein Āditya, also ein Sohn der Urmutter Aditi. Savitṛ wird stets als von prächtiger Gestalt und von goldenem Glanz umgeben beschrieben. In einem goldenen Streitwagen fährt er über den Himmel und so erfreut er Tag für Tag mit seinem strahlenden Anblick alle Lebewesen. Damit wurden ihm in der vedischen Epoche vor allem lebensspendende und erhaltende Eigenschaften zugeschrieben. Im Laufe der Jahrhunderte und mit zunehmender Beliebtheit anderer Gottheiten musste Savitṛ jedoch einen allmählichen Verlust an Bedeutung hinnehmen. Im heutigen Glaubensalltag spielt Savitṛ keine allzu große Rolle mehr. Seine Aufgaben und Eigenschaften wurden nach und nach von den heute populären Gottheiten Surya und Viṣṇu übernommen.
Und so wird auch der Gāyatrī Mantra heutzutage nicht mehr vorrangig als Anrufung an die vedische Sonnengottheit gesehen. Tatsächlich stellt der Gāyatrī Mantra insofern eine Besonderheit dar, als dass er im Grunde selbst als Gottheit verehrt wird. Über Jahrhunderte verehrten die Gläubigen den Gāyatrī Mantra so sehr, dass sich ihnen irgendwann der Mantra selbst als Gottheit zu erkennen gab, nämlich als die weibliche Gottheit „Gāyatrī“ bzw. „Sāvitrī“. Sie wird stets als auf einer Lotosblüte sitzend dargestellt und sie hat fünf Köpfe, vier, von denen je einer einen der vier Vedas repräsentiert, plus einen, in dessen Antlitz sich Sarasvatī, Lakṣmī und Pārvatī in vollendeter Anmut vereinigen. Sie hat außerdem zehn Arme, in denen sie die bekannten Insignien von Brahma, Viṣṇu und Śiva hält. Sehr oft wird Gāyatrī aber auch einfach als Gegenstück und Gemahlin von Brahma angesehen und damit mit Sarasvatī gleichgesetzt. So wird sie zur Personifikation von Weisheit, Wissenschaft und Künsten. Als Gattin des Brahma ist Gāyatrī auch die Mutter der Vedas. Die Einzigartigkeit des Gāyatrī Mantra besteht also darin, dass die gleichnamige Gottheit eine Manifestation des Mantras ist, und dass die Gottheit den Namen des Mantra trägt, und nicht umgekehrt, wie normalerweise üblich. Die urprünglich angerufene Gottheit Savitṛ trat deutlich in den Hintergrund, während der Mantra aufgrund seines Segensreichtums mit der Zeit mehr und mehr selbst die Gestalt einer Gottheit annahm.
Der Gāyatrī Mantra wird in vielen vedischen und nachvedischen Texten erwähnt und für seine segensreiche Kraft gepriesen. Besonders in den Upaniṣads wird seine immense Bedeutung immer wieder herausgestellt und sein esoterischer Gehalt erklärt, sowohl in den größeren und bekannteren wie der Bṛhadāraṇyakopaniṣad, der Śvetāśvataropaniṣad, der Maitrāyaṇīyopaniṣad oder der Mukhyopaniṣad als auch in den kleineren und weniger bekannten wie beispielsweise der Sūryopaniṣad. Wie alle Mantras, so wird auch der Gāyatrī Mantra einem Ṛṣi zugeordnet. Dieser wird zwar nicht als Verfasser des Mantra angesehen, denn Mantras gelten gemeinhin als Śruti, d.i. die direkte Offenbarung Gottes, aber doch immerhin als derjenige, dem der Mantra als erstem Menschen enthült wurde. Der Ṛṣi des Gāyatrī Mantra ist Viśvāmitra, ein Weiser von königlicher Abkunft, ursprünglich Herrscher von Kānyakubja, später einer der großen Ṛṣis und auch Lehrer des Rāma. Er hat das gesamte dritte Maṇḍala des Ṛgveda empfangen, dessen Bestandteil eben auch der Gāyatrī Mantra ist.
Der Gāyatrī Mantra (mit Praṇava und Mahāvyāhṛti) lautet:
-
ॐ ǁ
भूर् भुवः स्वः ǁ
तत् सवितुर् वरेण्यं
भर्गो देवस्य धीमहि ।
धियो यो नः प्रचोदयात् ॥
oṃ ǁ
bhūr bhuvaḥ svaḥ ǁ
tat savitur vareṇyaṃ
bhargo devasya dhīmahi ।
dhiyo yo naḥ pracodayāt ॥
Die Übersetzung lautet:
-
Oṃ {ist} die Erde, der Raum zwischen Erde und Sonne {und auch} der Raum über der Sonne. Des strahlenden Savitṛ herrlichen Glanzes mögen wir teilhaftig werden! Möge er unsere Meditation voranbringen!
Etwas seltener, aber durchaus auch üblich, ist die Einleitung des Gāyatrī Mantra durch die Nennung aller sieben Lokas. Bei dieser Form der Einleitung wird dann nach der Rezitation des Mantra noch ein weiterer Vers angehängt, in dem die drei ersten Lokas noch einmal genannt werden.
Alles zusammen lautet dann:
-
ॐ ॥
ॐ भूर् ।
ॐ भुवः ।
ॐ स्वः ।
ॐ महः ।
ॐ जनः ।
ॐ तपः ।
ॐ सत्यम् ॥
ॐ ॥
तत् सवितुर् वरेण्यं
भर्गो देवस्य धीमहि ।
धियो यो नः प्रचोदयात् ॥
ॐ आपो ज्योती रसोऽमृइतं ब्रह्म ।
भूर् भुवः स्वर् ॐ ॥
oṃ ॥
oṃ bhūr ।
oṃ bhuvaḥ ।
oṃ svaḥ ।
oṃ mahaḥ ।
oṃ janaḥ ।
oṃ tapaḥ ।
oṃ satyam ॥
oṃ ॥
tat savitur vareṇyaṃ
bhargo devasya dhīmahi ।
dhiyo yo naḥ pracodayāt ॥
oṃ āpo jyotī raso’mṛitaṃ brahma ।
bhūr bhuvaḥ svar oṃ ॥
Der letzte Vers bedeutet:
-
Oṃ {ist} Wasser, Licht, Essenz, Ewigkeit {und} Bewusstsein. Die Erde, der Raum zwischen Erde und Sonne {und auch} der Raum über der Sonne {sind} Oṃ.
Der Mantra enthält die folgenden Sansritbegriffe:
-
bhūrloka | भूर्लोक | (m.) – die Erde; Bezeichnung für den Lebensraum der Menschen und Tiere; Bezeichnung für die physische Daseinsebene
bhuvarloka | भुवर्लोक | (m.) – die Lüfte; der Raum zwischen Erde und Sonne; Bezeichnung für die Sphäre, in der sich die Siddhas aufhalten, weit entwickelte Seelen, die den Wunsch haben, den Menschen bei ihrer Entwicklung beizustehen
svarloka | स्वर्लोक | (m.) – Bezeichnung für den Raum zwischen Sonne und Polarstern; Bezeichnung für das Königreich des der männlichen, vedischen Gottheit Indra
maharloka | महर्लोक | (m.) – Bezeichnung für eine Sphäre jenseits der drei ersten Lokas, die auch nach deren Vergehen noch bestehen bleibt
janarloka | जनर्लोक | (oder:) janaloka | जनलोक | (m.) – Bezeichnung für die Sphäre, in der sich die weitgehend gereinigten Seelen bis zu ihrer Wiedergeburt audhalten
tapoloka | तपोलोक | (m.) – Bezeichnung für die Sphäre, in der sich sehr weit entwickelter Seelen, die kurz vor ihrer endgültigen Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten stehen, aufhalten
satyaloka | सत्यलोक | (m.) – Bezeichnung für das absolute Sein in Gott, jenseits aller niedrigeren Lokas
tat | तत् | (Pron.) – das; dieses
savitṛ | षवितृ | (m.) – Name einer vedischen Sonnengottheit; mythischer Sohn der Aditi
vareṇya | वरेण्य | (Adj.) – hervorragend; exzellent
bharga | भर्ग | (m.) – Glanz, das Strahlen
deva |देव | (m.) – Gott; Oberbegriff für männliche Gottheiten
dhayati | धयति | (Verb) – aufsaugen; absorbieren; sich aneignen
dhiyāyu | धियायु | (Adj.) – fromm
yaḥ | यः | (Pron.) – der; derjenige
naḥ | नः | (Pron.) – unser
pracodayati | प्रचोदयति | pracodayati | (Verb) – anregen; inspirieren
ap | अप् | (f.) – Wasser
jyoti | ज्योति | (m.) – Helligkeit; Glanz
rasa | रस | (m.) – Mark; Essenz; Geist
amṛtam | अमृतम् | (n.) – Unsterblichkeit; Unvergänglichkeit; Ewigkeit
brahma | ब्रह्म | (oder:) brahmā | ब्रह्मा | (m.) – Name einer männlichen, vedischen Schöpfergottheit
brahma | ब्रह्म | (oder:) brahman | ब्रह्मन् | (n.) – Bezeichnung für das allumfassende, göttliche Bewusstsein
(Eine etwas ausführlichere Herleitung der Begriffe findet sich in unserem Glossar.)
Inspiriert durch den Gāyatrī Mantra entstanden im Laufe der Jahrhunderte übrigens eine ganze Reihe anderer Mantras, die jeweils einzelnen Gottheiten zugeordnet sind und die ebenfalls als „Gāyatrī Mantras“ bezeichnet, wobei in der Regel der Name der damit verehrten Gottheit vorangestellt wird, also z.B. „Rudra Gāyatrī Mantra“, „Ganesha Gāyatrī Mantra“ oder „Lakshmi Gāyatrī Mantra“. Bei diesen Mantras handelt es sich zwar ebenfalls um dreifüßige Verse, sie halten sich jedoch nicht an das ursprüngliche Versmaß von drei Versfüßen zu je acht Silben, sondern folgen lediglich einem Muster, nach dem die erste Zeile stets mit dem Wort „vidmahe“, die zweite Zeile mit dem Wort „dhimahi“ und die dritte Zeile mit dem Wort „pracodayat“ endet.
Der Gāyatrī Mantra eignet sich wie fast alle Mantras, die wir lehren, für jeden Menschen und für jeden Anlass. Seine Rezitation erhellt unser Gemüt, reinigt unser Herz und schenkt uns innere Klarheit. Obwohl der Gāyatrī Mantra nicht ganz leicht zu intonieren ist, ist er ein wundervoller Japa Mantra (d.h. zur Mantra-Meditation geeignet) und somit es ist auch möglich, sich durch das Ritual einer Mantra Dīkṣā in den Mantra einweihen zu lassen. Durch eine Mantra Dīkṣā, eine rituelle Einweihung, wird der zu Deinem persönlichen Mantra. In der täglichen Rezitation entfaltet der Mantra dann seine volle Kraft. Viel Freude beim Rezitieren!