Der Mahāmṛtyuñjaya Mantra

Der Mahāmṛtyuñjaya Mantra ist einer der heiligsten und wichtigsten Mantras. Er stammt aus dem Ṛgveda (7.59.12), dem ältesten der vier Vedas. Außerdem taucht er in der Taittirīya Saṃhita (1.8.6.i) und in der Vājasaneyi Saṃhita (3.60) des Kṛṣṇa Yajurveda und im Atharvaveda (14.1.17) auf. Hier findest Du den Mahāmṛtyuñjaya Mantra in Devanāgarī und IAST. Ursprünglich wurde mit diesem Mantra die männliche, vedische Gottheit „Rudra“ angerufen, die im Mantra „Dreiäugiger“ genannt wird.

Rudra wurde in jüngerer Zeit bis heute zumeist mit einer anderen männlichen Gottheit gleichgesetzt, die zwar im Veda noch keine Erwähnung findet, sondern erst in den Pūraṇas, dafür heute jedoch umso populärer ist, nämlich Śiva, wörtlich: „der Gütige“. „Mahāmṛtyuñjaya“, zu Deutsch „Triumph über den Tod“, ist eine von vielen Bezeichnungen für Śiva. Der Mahāmṛtyuñjaya Mantra ist also seinem Ursprung nach eine Anrufung des Śiva bzw. des Rudra. Jedoch gilt dieser Mantra als derart universell, dass er zu den sogenannten „Nirguṇa Mantras“, zu den „Mantras ohne Eigenschaft“, gezählt wird.

Der Mahāmṛtyuñjaya Mantra lautet:

    ॐ त्र्यम्बकं यजामहे सुगन्धिं पुष्टिवर्धनम् ।
    उर्वारुकमिव बन्धनान्मृत्योर्मुक्षीय माऽमृतात् ॥

    oṃ tryambakaṃ yajāmahe sugandhiṃ puṣṭivardhanam ।
    urvārukamiva bandhanānmṛtyormukṣīya mā’mṛtāt ॥

Die Übersetzung lautet:

    Dem Dreiäugigen opfern wir, dem Duftenden, dem Quell der Fülle.
    Wie einen Kürbis vom Stil, so möge ich von der sterblichen Existenz mich lösen durch ewiges Leben.

Der Mantra enthält die folgenden Sansritbegriffe:

    tryambaka | त्र्यम्बक | (m.) – der Dreiäugige

    yajati | यजति | (Verb) – opfern

    sugandhi | सुगन्धि | (Adj.) – duftend; wohlriechend

    puṣṭi | पुष्टि | (f.) – Fülle; Wohlstand

    vardhana | वर्धन | (m.) – Gönner; Förderer

    urvāruka | उर्वारुक | (n.) – Bezeichnung für eine gurken- oder kürbisähnliche Frucht

    iva | इव | (indekl.) – wie; als ob

    bandhana | बन्धन | (n.) – Stengel; Stiel

    mṛtya | मृत्य | (m.) – Tod; Vergänglichkeit; Sterblichkeit

    mokṣayati | मोक्षयति | (Verb) – befreien; lösen; erlösen

    mā | मा | (Pron.) (eigentl.:) māṃ | मां | (Pron.) – mich

    amṛtam | अमृतम् | (n.) – Unsterblichkeit

    (Eine etwas ausführlichere Herleitung der Begriffe findet sich in unserem Glossar.)

Wie jeder Mantra, so wird auch der Mahāmṛtyuñjaya Mantra einem Ṛṣi zugeschrieben, nämlich dem Ṛṣi Mārkaṇḍeya. Dieser wird zwar nicht als Verfasser des Mantra angesehen, denn die Mantras gelten als direkte Offenbarung Gottes und damit nicht als menschengemacht, aber Mārkaṇḍeya ist so etwas wie der Hüter und Ahnherr des Mantra. Er soll ein bedeutender und äußerst hingebungsvoller Śiva-Verehrer gewesen sein. In einer populären Anekdote des nach ihm benannten Mārkaṇḍeya Purāṇa wird erzählt, dass er gemäß einer Prophezeiung mit Vollendung seines 16. Lebensjahres sterben hätte sollen. Doch Śiva, berührt von der Frömmigkeit des Jünglings, befreite ihn im entscheidenden Moment aus der Gewalt des Totengottes Yama. Und er weihte ihn als ersten Menschen in den geheimen Mahāmṛtyuñjaya Mantra ein.

Gemäß einer anderen Geschichte belegte ein Prajāpati namens Dakṣa („Prajāpati“ ist der Oberbegriff für eine Klasse von Schöpfergottheiten – dieser war zugleich der missgünstige Schwiegervater des Śiva.) die Mondgottheit Candra mit einem todbringenden Fluch. Um zu helfen weihte Mārkaṇḍeya die weibliche Gottheit Satī, die Tochter des Dakṣa und Gemahlin des Śiva ebenfalls in den Mahāmṛtyuñjaya Mantra ein, damit diese ihn wiederum an Candra weitergeben konnte. Der machtvolle Mantra soll daraufhin dessen Tod solange hinausgezögert haben, bis er von Śiva endgültig gerettet wurde. Die bekannte Darstellung einer liegenden Mondsichel auf der Stirn des Śiva geht auf diese Erzählung zurück.

Nach eine Anekdote des Śiva Purāṇa soll einst der Ṛṣi Śukra, ein mythischer Weiser, nach langer, entbehrungsreicher Askese durch die Rezitation des Mahāmṛtyuñjaya Mantra seine Lebenskraft wiedererlangt haben. Śukra gilt als einer der Söhne des bekannten Ṛṣi Vasiṣṭha. Das Mahābhārata erzählt, dass er einer der Lehrer des großen Bhīṣ‍ma gewesen sei, der in der Schlacht von Kurukṣetra einer der Anführer der Kauravas war. Der Legende nach hatte Śukra die Fähigkeit erlangt, Tote wieder lebendig zu machen. Śukra soll auch Daityas und Asuras (Halbgötter und Dämonen) darin unterwiesen haben, Herrschaft über den eigenen Tod zu erlangen, was natürlich zu einigen Schwierigkeiten führen musste. In Anlehnung daran nennt man den Mahāmṛtyuñjaya Mantra auch „Mṛtasañjīvini Mantra“, was im Deutschen ungefähr „Mantra, welcher Tote belebt“ bedeutet.

Was die Interpretation und den spirituellen Gehalt anbelangt, so wird der Mantra oft in vier Abschnitte gegliedert: Der erste Teil („dem Dreiäugigen opfern wir“) verweist auf das dritte, göttliche Auge der Erkenntnis, dass auch uns Menschen, wenn es geöffnet ist, Einsicht in unsere wahre, göttliche Natur schenken kann. Im zweiten Teil („dem Duftenden, dem Quell der Fülle“) wird angedeutet, dass die Öffnung des dritten Auges und die damit verbundene, göttliche Erkenntnis uns durch höhere Gnade zuteil werden. Der dritte Teil („wie einen Kürbis vom Stil, so möge ich von der sterblichen Existenz mich lösen“) deutet auf die Tugend höchster Anhaftungslosigkeit hin und artikuliert den Wunsch, dass wir im Moment unseres Todes nicht zu sehr an unserer vergänglichen, physischen Existenz hängen. Und der vierte Teil („durch ewiges Leben“) deutet schließlich darauf hin, dass nicht etwa der Tod die letzte Realität ist, sondern unser unsterblicher, göttlicher Wesenskern, der sich uns in dem Moment offenbart, in dem wir uns von allen irdischen Anhaftungen lösen können.

Der Mahāmṛtyuñjaya Mantra eignet sich wie fast alle Mantras, die wir lehren, für jeden Menschen und für jeden Anlass. Seine Rezitation spendet uns Kraft, Heilung und Segen auf allen Ebenen unseres Daseins. Du kannst den Mantra für Dich selbst wie auch für andere Menschen wiederholen. Besonders geeignet ist der Mantra für den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt, für den Beginn einer Reise, um bei Krankheit um Genesung zu bitten oder aber um einem Sterbenden oder kürzlich Verstorbenen Kraft zu geben, seine irdische Existenz hinter sich zu lassen. Obwohl der Mahāmṛtyuñjaya Mantra etwas länger ist, eignet sich für hervorragend Japa (Mantra-Meditation) und somit es ist auch möglich, sich durch das Ritual einer Mantra Dīkṣā in den Mantra einweihen zu lassen. Durch eine Mantra Dīkṣā, eine rituelle Einweihung, wird der zu Deinem persönlichen Mantra. In der täglichen Rezitation entfaltet der Mantra dann seine volle Kraft. Viel Freude beim Rezitieren!