Devanāgarī

Die Devanāgarī ist, wie ich finde, eine der schönsten und vollkommensten Schriften, die es gibt. Sie besticht durch ein lebendiges, aber niemals chaotisch wirkendes Schriftbild und eine außerordentlich hohe Funktionalität, was schon allein angesichts der 50 Laute der hochkomplexen Sanskritsprache bemerkenswert ist. Zudem werden Ihren einzelnen Zeichen heilige und heilsame Kräfte zugeschrieben. So wie die Ordnung der Laute des Sanskrit als Abbild des Kosmos verstanden werden kann, so kann man jede Glyphe als visuelle Manifestation eines heiligen Klangs ansehen.

Die Devanāgarī ist eine Schrift, in der mehrere indische Sprachen geschrieben werden, z.B. Sanskrit, Hindi, Marathi, Nepali, z.T. auch Kashmiri und Sindhi. Sie stammt direkt von der Brahmi-Schrift ab, (bis 500 v. Chr. zurückzuverfolgen), die vermutlich wiederum ein Abkömmling der östlichen aramäischen Schrift ist. Auch andere indische Sprachen verwenden Schriften aus der Brahmi-Familie. „Devanāgarī“ wird meist mit „Schrift aus der Stadt der Götter“ übersetzt. Die wörtliche Übersetzung ist jedoch lediglich „Stadt der Götter“.

Die Devanāgarī zählt zu einer Gattung von Schriften, die man als „Alphasyllabar“ bezeichnet bzw. auch als sogenannte „Abugida“. Beide Begriffe bezeichnen einen bestimmten Schrifttypus, der nicht, wie hin und wieder behauptet, eine Zwischenstufe von Silbenschrift und Buchstabenschrift bzw. Alphabet darstellt, sondern der tatsächlich eine Buchstabenschrift ist.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint die Devanāgarī aus Syllabogrammen zu bestehen, also aus Glyphen, die, genau wie bei einer Silbenschrift, jeweils eine ganze Silbe abbilden, weil alle ihre 25 Konsonanten mit einem darauffolgenden kurzen „a“ verbunden sind. Dieses „a“ bezeichnet man als „inhärenten Vokal“. Der inhärente Vokal kann jedoch jederzeit durch an die Glyphe angefügte Zusatzzeichen („Diakritika“ genannt) nasaliert, aspiriert, in irgend einen anderen Vokal geändert oder auch ersatzlos eliminiert werden. Damit entsteht jedoch genau genommen eine ganz neue, eigenständige Glyphe bzw. ein eigenständiger Buchstabe, so dass die Devanāgarī bei näherer Betrachtung eindeutige Merkmale einer Buchstabenschrift trägt. Jedoch weist sie zudem eine weitere Besonderheit auf, nämlich was die Reihenfolge der Lautbildung anbelangt. So wird sie zwar von links nach rechts geschrieben. Jedoch gilt hierbei zu beachten, dass die lineare Abfolge der Grapheme, die eine Glyphe bilden, nicht zwingend der Folge der gesprochenen Laute entspricht.

Das Sanskrit kennt lediglich drei (echte) Vokale. In der Devanāgarī werde diese nur im Silbenanlaut oder im Anschluss an einen oder mehrere andere Vokal als eigenständige Glyphe geschrieben. Hingegen werden alle Vokale, die auf einen Konsonanten folgen, als an die Konsonantenglyphe angefügtes Vokaldiakritikum geschrieben. Wir sprechen hier von Diakritika und nicht von Glyphen, weil die angefügten Vokalzeichen keinen eigenständigen Charakter aufweisen. Anders als bei Konsonantenschriften wie Arabisch und Hebräisch beeinflussen diese kleinen Vokalzeichen aber die Bedeutung eines Wortes. Ihre Verwendung ist damit für die Verständlichkeit von geschriebenen Worten zwingend erforderlich. Die Diakritika der Devanāgarī stellen, wenn auch keine eigenständigen Glyphen, so doch immerhin vollwertige Grapheme dar. Die Devanāgarī zeichnet sich also durch eine zumindest weitgehende „Graphem-Phonem-Korresponzenz“ aus. D.h. dass jedes geschriebenen Zeichen eindeutig einen bestimmten, gesprochenen Laut beschreibt. Eine Ausnahme bilden hierbei der Bindu (bzw. Candrabindu) und einige, wenige Buchstabenkombinationen.

Die Devanāgarī kennt übrigens keine Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung und eigentlich auch keine Wortabstände. In älteren Sanskrittexten wurde die Devanagari in einer sogenannten Scriptura Continua geschrieben, d.h. die Rekhā, d.i. die obere horizontalen Linie, wurde nur durch bestimmte Glyphen, bzw. Ligaturen oder am Zeilenende unterbrochen. Die von der Rekhā zusammengehaltenen Glyphen stellten also in der Regel mehr als ein Wort dar. Heutzutage werden Devanāgarī-Texte in Pausa-Form geschrieben, d.h. die Rekhā wird meist schon nach einem Wort unterbrochen.

Je nach Zählweise kennt das Sanskrit bzw. dementsprechend die Devanāgarī zwischen 48 und 50 Laute bzw. Glyphen. Zu diesen kommt aber noch eine kaum zu überschauende Anzahl von Ligaturen, d.s. Verbindungen von Konsonantenglyphen. Ligaturen werden insbesondere dann gebildet, wenn bei zwei oder mehreren aufeinanderfolgenden Konsonanten die inhärenten Vokale der jeweils vorderen Konsonantenglyphe entfallen. Dann werden in der Regel alle zu einer Ligatur zusammengefasst, wodurch eine einzigen, neuen Glyphe entsteht. Mit den vielen Ligaturen der Devanāgarī entstehen jeweils eigenständige laut- und bedeutungstragende Zeichen mit Buchstabencharakter, so dass die Devanāgarī streng genommen mehrere Hundert eigenständige Buchstaben umfasst.

In unseren Texten wenden wir bei der Transkription von Mantras und Sanskrittexten sowie bei Herleitung von Wörtern aus dem Sanskrit stets das „International Alphabet of Sanskrit Transliteration“ (IAST) an, das derzeit dem internationalen wissenschaftlichen Standard entspricht. Es beinhaltet selbst wiederum diverse Diakritika, die es ermöglichen, alle 50 Laute der Devanāgarī in lateinischer Schrift eindeutig abzubilden. Eine vereinfachte Schreibweise ohne Diakritika hat den großen Nachteil, dass die bedeutungsbeeinflussende Aussprache eines Wortes oft nicht eindeutig geklärt ist. Im Internet werden Devanagari und die Sonderzeichen des IAST nur durch Unicode-Schriften zuverlässig dargestellt. Falls Du wissen möchtest, wie man von Devanāgarī nach IAST transkribiert oder wie man die Phoneme des Sanskrit korrekt intoniert, dann ließ unser Tutorial zu diesem Thema.